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„Veranstaltungen zur Forschungsethik müssen fest im Lehrangebot verankert werden“

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Frau Baader, Sie sind Erziehungswissenschaftlerin – in welchem Forschungsprojekt sind Sie zuletzt mit vulnerablen Gruppen in Berührung gekommen und wie haben Sie deren besondere Schutzbedürfnisse im Forschungssetting berücksichtigt?

In Forschungsprojekten zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt zum Beispiel fängt es bereits mit den Begrifflichkeiten an. Die betroffenen Personen möchten nicht mehr als Opfer bezeichnet werden, sondern als Betroffene, manche auch als (Gewalt-)Erfahrene. Da ist es wichtig, zu berücksichtigen, wie jemand adressiert werden möchte. Ein weiterer Punkt ist, dass wir den Betroffenen oder Betroffenenvertretungen vorab das Forschungskonzept und den Antrag zukommen lassen und im Nachgang auch die Ergebnisversionen. So können sie uns vor der Veröffentlichung mitteilen, wenn darin etwas für sie nicht stimmig ist. In den Interviews selbst müssen wir besonders sensibel vorgehen, da immer die Gefahr einer möglichen Retraumatisierung besteht. Dafür stehen wir bei solchen Projekten in Kontakt mit Beratungseinrichtungen, an die wir gegebenenfalls verweisen können.

Herausfordernd ist auch die Frage, wie wir damit umgehen, wenn sich Betroffene nach Auslaufen eines Projektes melden und ihre persönliche Geschichte mitteilen möchten. Diese Personen können wir nicht einfach zurückweisen, weil die Projektförderung ausgelaufen ist.

Und nicht zuletzt gehört es bei solchen Projekten dazu, auch die Rolle der Forschenden im Blick zu behalten, die sich in den Interviews viele Dinge anhören, die belastend sind und persönlich verarbeitet werden müssen. Deshalb planen wir bei solchen Projekten auch Supervisionen mit ein. Und selbstverständlich stellen wir bei diesen Projekten Anträge bei der Ethikkommission.

In den Erziehungswissenschaften, in der Bildungsforschung oder auch beispielsweise in der psychologischen Forschung ist die Sensibilität im Umgang mit vulnerablen Gruppen vermutlich besonders hoch, da häufig Kinder und Jugendliche im Fokus der wissenschaftlichen Arbeit stehen. In welchen anderen Forschungsbereichen an der Universität Hildesheim, an die man vielleicht nicht sofort denken würde, müssen besondere ethische Aspekte in Bezug auf die beforschten Gruppen berücksichtigt werden?

Machen wir uns einmal bewusst, welche Personengruppen als vulnerabel gelten: Das sind unter anderem Kinder und Jugendliche; Betroffene von sexualisierter Gewalt, Rassismus, Diskriminierung oder Verfolgung; kranke, alte und pflegebedürftige Menschen; Menschen mit Beeinträchtigungen; aber auch die soziale Herkunft kann ein besonderes Schutzbedürfnis erfordern. Aus dieser Bandbreite folgt schon, dass kaum ein wissenschaftliches Fachgebiet nicht mit vulnerablen Gruppen in Berührung kommt. Eine Reflexion von Vulnerabilität kann in bestimmten Forschungsfeldern der Soziologie erforderlich sein, in den Sprachwissenschaften, in der Theologie, der Sportwissenschaft, der Pflegewissenschaft, aber auch in der KI-Forschung, etwa bei der Frage, welche Gruppen KI im Alltag nutzen. Auch die kulturwissenschaftlichen Forschung kommt in Berührung mit Aspekten von Vulnerabilität, wenn es beispielsweise um die Kolonialismusforschung geht oder die Repräsentation von People of Color in der Kunst.

Wie hat sich Ihrer Wahrnehmung nach im wissenschaftlichen Kontext das Bewusstsein für vulnerable Gruppen in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Da muss ich nur an meine eigene wissenschaftliche Biographie denken: Ich habe in den 1990er Jahren nach Abschluss meiner Promotion in einem DFG-Projekt mit männlichen Jugendlichen im Strafvollzug gearbeitet. Damals hat man sich noch sehr wenig mit forschungsethischen Fragen auseinandergesetzt. Wir haben Einwilligungserklärungen, teilweise auch bei den Eltern, eingeholt und unsere Daten selbstverständlich anonymisiert, aber eine vertieftere Auseinandersetzung  mit datenschutzrechtlichen Fragen erfolgte kaum. Wir haben auch keinen Antrag bei einer Ethikkommission gestellt. Heute ginge so ein Forschungsantrag ohne Einbindung der Ethikkommission überhaupt nicht mehr durch.

Wenn wir noch weiter zurückblicken, in die 1970er Jahre, findet man heute noch Dokumentationen mit wissenschaftlichem Anspruch, in denen beispielsweise Fotos aus Kitas von nackten Kindern enthalten sind. Themen wie Personenschutz, Datenschutz oder Bildrechte waren nicht im Blick, da war man einfach sehr unbedarft.

Die Sensibilisierung für diese Thematik war ein Prozess, der weiterhin anhält. Einige Forschungsgebiete, darunter die medizinische Forschung, kommen sehr unmittelbar mit ethischen Fragestellungen in Berührung, in anderen Gebieten hat das Bewusstsein für bestimmte Problematiken erst später eingesetzt.

Sind forschungsethische Fragestellungen, zu denen der Umgang mit vulnerablen Gruppen zählt, in der akademischen Ausbildung der betroffenen Fächer aus Ihrer Sicht ausreichend berücksichtigt oder was müsste geschehen, um Nachwuchswissenschaftler*innen frühzeitig eine entsprechende Sensibilität zu vermitteln?

Auch das ist ein Prozess und da ist sicherlich noch viel zu tun. Dazu soll ja auch unser Tag der Forschung einen Beitrag leisten. Grundsätzlich reicht es aber nicht, ethische Fragestellungen einmalig in einer Einführungsveranstaltung ins wissenschaftliche Arbeiten zu thematisieren, sondern entsprechende Veranstaltungen müssen fest im Lehrangebot verankert sein. Das ist bisher nicht durchgehend der Fall, sondern immer nur dort, wo einzelne Lehrende diesen Schwerpunkt bewusst setzen.

Letztlich kann man sich eine Sensibilisierung für dieses Thema aber nur begrenzt anlesen, die einzelnen Notwendigkeiten müssen immer mit Blick auf den jeweiligen Forschungsinhalt und die Fragestellung neu abgewogen und ausverhandelt werden. Da kann man im Gespräch mit Betroffenen und deren Vertretungen manchmal auch Überraschungen erleben.

Stichwort Partizipation: Wann ist ein aktives Mitwirken der beforschten Gruppe angeraten oder unabdinglich? Und unter welchen Bedingungen kann man (muss man?) über Personen und Gruppen forschen, ohne diese selbst einzubeziehen?

Das ist immer abhängig von der Forschungsfrage. Es ist ein Unterschied, ob ich bestehende Daten auswerte, zum Beispiel, indem ich untersuche, wie viele Lehrveranstaltungen zum Thema Inklusion an deutschen Hochschulen in einem bestimmten Zeitraum angeboten wurden. In diesem Fall, bin ich der Meinung, braucht es nicht notwendigerweise die Partizipation der betroffenen Gruppen.

Möchte ich allerdings unter inklusiven Aspekten zum Umgang mit Menschen mit Behinderung an deutschen Hochschulen forschen, ist es wichtig, diese Menschen auf mehreren Ebenen einzubeziehen.

 

 

Tag der Forschung 2023: weitere Informationen zum Programm

Stichwort Vulnerable Gruppen

Unter der Bezeichnung „vulnerabel“ versteht man verkürzt gesagt, Personen(gruppen), die aufgrund ihrer persönlichen Verfassung oder bestimmter Umstände besonders verletzlich sind und damit auch im Kontext wissenschaftlicher Befragungen und anderer Erhebungen in erhöhtem Maß schutzbedürftig sind. Das betrifft beispielsweise Kinder und Jugendliche, Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Menschen in Notsituationen oder Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen, die eine freie Meinungsäußerung beeinträchtigen könnten.


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